Schreibwerkstatt: Gerda

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BlaubeersucheIn der Rubrik „Schreibwerkstatt“ gewähre ich Einblick in meine Gedankenwelt und stelle gekürzte Texte vor, die aus meinen Kurzgeschichten oder kleinen Sammlungen stammen.

Gerda

Irgendwann, ein paar Jahre vor ihrem Tod, wurde sie weich.

Niemand konnte sagen, woran es lag. Demut? Dankbarkeit? Demenz?

Altersmilde schaute sie auf ihr Urenkelchen, ein sechsjähriges, munteres Mädchen, gerade eingeschult. Die Kleine bezauberte die Alte mit ihrem schieren Dasein. Das Mädchen stand vor ihr und sagte auf lächelndes Befragen das ganze Alphabet auf, leierte kleine Rechenaufgaben herunter, hopsend und  dabei froh gelaunt den schmalen Körper nach links und rechts schlenkernd.

Die beiden waren in ihre Zweisamkeit versunken, die 85 Lebensjahre, die zwischen ihnen standen, trennten sie nicht. Ganz dicht waren sie beieinander, die Uroma streichelte vorsichtig mit kühlen Händen über die erhitzten Wangen des Kindes. Das Mädchen hob ihr das Gesicht entgegen, unbefangen, ohne Abstand. Es war undenkbar lange her, dass die Frau solche Nähe empfunden hatte. So zärtlich.

Gerdas Leben hatte zwischen den großen Kriegen, in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen. Drei Brüder und eine Schwester gehörten bereits zur Familie, dann kam sie mit ihrer Zwillingsschwester Lissy auf die Welt. Es gibt ein Foto, auf dem sie beide fünf Jahre alt sind – Kniestrümpfe, dunkel gemusterte Kleidchen mit hellen Schürzen, große Schleifen im Haar. Gerda mit schmalem Mund, ängstlichem Blick, die Schwester mit lächelnden Kulleraugen. Sie halten sich fest an den Händen. Zusammenhalten werden sie immer, ihr ganzes Leben lang.

Beide sind die verhätschelten Jüngsten, ewig beneidet von der großen Schwester. Aber sie müssen genauso wie alle Kinder dem Vater in der „Malerei“, seinem Geschäft, helfen. Büroarbeiten übernehmen, tapezieren und anstreichen lernen. Die große Schwester verlässt das Haus als die Zwillinge in die Schule kommen und geht nach Berlin.

Als der Krieg beginnt, sind auf einmal alle Männer fort. Der Vater und alle drei Brüder werden zum Militär einberufen. Jahre des Wartens. Nur der Vater wird wiederkommen. Drei tote Brüder sind zu betrauern, sie hinterlassen zwei junge Witwen mit Kindern, zu denen sich auch später kein rechtes Vertrauen einstellen will. Sie leben weit weg, man kennt sich kaum. Man wird nie mehr voneinander hören.

[…] Gerda und Lissy heiraten, jede hat ein Kind. Sie ziehen die Kinder gemeinsam auf. Als das elterliche Haus zu groß wird, weil die Kinder erwachsen geworden und fortgegangen sind, verkaufen die Alten es für billiges Geld und nehmen sich zwei gegenüberliegende Wohnungen, gleich am Markt.

Wie jeden  Sommer fahren die Zwillinge alle Tage mit ihren Fahrrädern in den Wald und suchen Blaubeeren und Pilze. Der Blaubeerkuchen wird weithin gelobt, wer ihn einmal kosten durfte, wird den Genuss nie mehr vergessen.

[…] Der Enkel hat sich ein Auto gekauft, der Weg ist nun weniger beschwerlich und er kann mit der Kleinen öfter zu Besuch kommen. Sie interessiert sich für Gerdas Leben, die alten Fotos und Geschichten. Aufmerksam lauscht sie der leisen Stimme der Greisin, die von den toten Brüdern, dem alten Haus und dem ersten Kuss erzählt. Nach dem Mittagessen gehen sie gemeinsam spazieren,  zum alten Haus, dass sie kaum wieder erkennen, und zur „Spielschule“, Gerdas Kindergarten vor fast 90 Jahren. Sie lachen viel und sind unbeschwert. Am Abend fahren die Jungen wieder nach Hause.

Eine Woche später wird Gerda einen Brief bekommen, handgeschrieben mit ungelenken Buchstaben und vorgezeichneten Linien. Kleine grüne Frösche zieren das Papier.

(Der ungekürzte Text wird in der Sonderedition „Alles Leben“ erscheinen.)

Eine Antwort »

  1. Oh wie schön. So sollte es sein: die Urengelin 😉 entlockt der Uroma alle Geschichten.
    Dann werden die alten, wunderbaren Geschichten bewahrt.

    Der Text ist wie immer so schön geschrieben.

    • Was man auch so als Nebenstehender erfährt: wo die „Spielschule“ (=Kindergarten) sich einst befand, wer der Lieblingsbruder war und dass es schon vor 80 Jahren kulturell anspruchsvolle Mädchenclubs gab 😉

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