Mein NaNoWriMo-Roman „Das Maerchen vom geizigen Mann“ nimmt Formen an. „Ich“, das ist Johannes, so ein Menschenscheuer, der selten seine Wohnung verlaesst, macht sich nach vielem Hin und Her auf in seine Vergangenheit und wird mit dem Leben konfrontiert…
„[…]Bevor der Fahrer den ersten Gang einlegte und schaukelnd los fuhr, rettete ich mich auf den naechsten freien Sitzplatz, der sich im mittleren Teil des Busses befand. Als ich endlich sass und zu Atem gekommen war, bemerkte ich, dass mir gegenueber ein Grossmuetterchen hockte. Sie war bemueht, ihr Hab und Gut, bestehend aus prall mit Einkaeufen gefuellten diversen Plastiktaschen, zusammenzuhalten. Mit duennen, farblosen Lippen laechelte sie mir zu und rueckte ein Stueck beiseite, damit ich bequemer sitzen konnte. Ich nickte und deutete ein Laecheln an, nicht mehr, um sie nicht zu Vertraulichkeiten zu ermuntern. Doch meine Zurueckhaltung erfuellte ihren Zweck nicht. Schon bevor wir die naechste grosse Kreuzung erreicht hatten, richtete sie das Wort an mich: „Junger Mann, haetten sie wohl die Freundlichkeit, mir an der Haltestelle Herkules-Allee Bescheid zu geben?“ Irritiert blickte ich auf. Schon zum zweiten Mal an diesem Tage hatte mich jemand als „jungen Mann“ bezeichnet. Ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. Beim ersten Mal haette ich muehelos der Grossvater sein koennen, also tat ich die Anrede als Floskel ab. Meine Busnachbarin und mich trennten hingegen nur wenige Jahre, die sie aelter sein mochte. Mich raeuspernd beeilte ich mich zu antworten: „Gewiss, meine Dame, ich sage rechtzeitig Bescheid.“
„Danke fuer die Muehe!“ Sie erroetete leicht als sei sie ein junges Maedchen. Der Gedanke daran, dass sie und demzufolge auch ich einmal jung und sogar im aehnlichen Alter gewesen waren, verwirrte mich. […] Ich tat, als saehe ich aus dem Fenster, um die tristen Haeuserreihen oder die wenigen Fussgaenger zu betrachten. Insgeheim beobachtete ich die Alte hinter vorgehaltener Hand. Ihre hellen, blauen Augen, die schon das Ende zu sehen schienen, ihr weisses, sorgfaeltig in Wellen gelegtes Haar und das von feinen Linien ueberzogene Gesicht, ganz wie Krakelee auf einem alten Gemaelde. Wenn ich mit den Augenlidern blinzelte, konnte ich mir muehelos vorstellen, wie sie in frueherer Zeit ausgesehen hatte. Ich ueberlegte, wie damals die Kategorien von Schoenheit benannt wurden. Flott, adrett, kokett. Welche Beschreibung haette ihr gegolten? Ein adrettes Hausmaedchen mit halber, spitzenumrandeter Schuerze, weiss und perfekt gestaerkt? Oder ein flotter Kaefer, ein bisschen vorlaut, modern und unabhaengig? Oder eine Kokette, die gern mit den Maennern schaekerte und nie etwas anbrennen liess?
Die weiche Stimme der Ansagerin liess mich aufschrecken: „Herkules-Allee.“[…]