Früher wohnten am Kollwitzplatz Arbeiter mit grauen Gesichtern, sogenannte Asoziale, Säufer, langhaarige Künstler, Studenten, viele Kinder und Rentner. Die Angestellten zogen weg aus dem zerbröckelnden Kiez, der sich seit einhundert Jahren an den Prenzlauer Berg krallte. Der letzte Krieg war mit heißem Phosphoratem darüber hinweg gefegt und hatte Trümmer, Tote und freigebombte Hinterhöfe zurückgelassen. Zwischen den notdürftig geflickten Ruinen bedeckte die Natur kalte Steine. Die Häuser waren grau und rußgeschwärzt, auf allen Dachböden standen Schüssel und Eimer, die regelmäßig überliefen, wenn ein Platzregen ungehindert durch die Löcher im Dach floss.

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Jahrzehnte später tat sich tagsüber nicht viel in dieser Gegend, die einst vor Geschäftigkeit wimmelte. Die Kinder waren im Kindergarten, die Eltern beide arbeiten und andere Bewohner ließen sich nicht blicken. Zum Feierabend hin wurde es jedoch lebendig, die Kinder warfen ihre Schulmappen auf den Gehweg und fingen an zu spielen, Gummihopse, WerhatAngstvormschwarzenMann, Verstecken oder Fangen. Die Erwachsenen kamen später und schickten die Kinder einkaufen, einholen, wie sie sagten. Gleich an der Ecke war das Lebensmittelgeschäft, über dessen Tür stand in altmodischen Buchstaben „Molkerei“ und neben den Fenstern hingen rostige Emailleschilder, die für Butter, lose Milch und frischen Käse warben. Der Laden war an allen Wänden weiß gefliest, in Zweimeterhöhe ringelten sich grün gemalte Ranken mit blauen und rosa Blüten auf Schmuckfliesen als Bordüre. Die Theke stammte noch aus Vorkriegszeiten, ebenso die Waage, die Milcheimer und die weißen Häubchen der Verkäuferinnen, die sie sich auf Anweisung der Chefin ins Haar stecken mussten. Die halbe Straße lachte über diesen unzeitgemäßen Tick und ging lieber ein paar Straßen weiter in die eben neu gebaute Kaufhalle, einen Supermarkt, der die kleinen Geschäfte überflüssig machen sollte. Die Alteingesessenen gingen weiterhin zu „Lehmanns“ in die Molkerei.

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Nebenan war der Friseur, dessen Besitzer noch aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schien. Sein schwarzes Haar trug er nach hinten gekämmt und Unmengen von Pomade ließ die Strähnen fettig glänzen. Er war ein Kavalier alter Schule, sprach selbst die alten und armen Hutzelweiblein mit „gnä’ Frau“ an, nahm mit Nonchalance ihr winziges Trinkgeld entgegen und frisierte die zarten weißen Löckchen tadellos. Den Kindern sprach der Friseur Mut zu und machte gern ein Späßchen mit ihnen, wenn sie bei ihm auf einem der riesigen, schwarzledernen Frisiersessel Platz nahmen. Er ließ die Kleinen ein paar Mal hoch- und wieder hinunterfahren, bis sie die richtige Position erreicht hatten, damit er gut arbeiten konnte. Auch sie behandelte er korrekt und zuvorkommend, aber die Kinder dankten es ihm nicht und hatten allesamt Angst vor dem Mann. Vielleicht lag es am schummrigen Licht und der Düsternis, möglicherweise waren es die fremden Gerüche, die aus allerlei Zerstäubern dufteten. Oder das schwere, dunkle Mobiliar, aus edlen Hölzern und matt glänzendem Marmor, und die dort aufgereihten, ungewohnten Utensilien mochten die Kinder verschrecken. Bei den Männern hingegen war der Friseur sehr beliebt, er war einer der wenigen, die noch mit dem blanken Messer rasierten und sich mit allen Arten von Bärten, ganz entgegen der Mode, auskannte. […]

Eine Antwort »

    • Vielleicht sollte ich die „Asozialen“ besser so kennzeichnen. „Asozial“
      war in der DDR der übliche Sprachgebrauch, der von offizieller Seite so verwendet wurde, um auch, neben anderen, Nonkonformisten, Freiberufler, die kein geregeltes Einkommen nachweisen konnten, zu diskriminieren. Das Wort kennzeichnet eine bestimmte Zeit, deshalb habe ich es gewählt. Ich bin sehr froh, wie sehr sich Wahrnehmungen ändern können, so dass solch ein Wort heute auffällt und zu Widerspruch anregt.

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